Ohne Druck gibt es kein Wachstum. Zu viel Druck jedoch verursacht Scham. Warum? Weil die Erwartungen nicht erfüllt werden können.
Aber wenn Scham keine positive Energie ist, weshalb dieser Titel?
Wieso sollten wir dankbar dafür sein und es als Tool einsetzen?
Ist das nicht ein Widerspruch? Ja, ein klassisches Paradox. Und ich liebe es.
Aber lasst uns genauer hinschauen.
Also, was passiert, wenn wir Scham empfinden? Scham entsteht nicht aus dem Nichts. Irgendwas muss ja geschehen.
In kurz: Wir wollen etwas, bekommen es aber nicht. Und weil es uns wichtig ist, schämen wir uns dafür.
Scham entsteht aus dem eigenen Druck.
Dann machen wir uns noch mehr Druck. Können die eigenen Erwartungen jedoch nicht erfüllen. Egal, wie viel wir erreichen. Egal, wie viel wir für unsere Familie geben.
Was für uns zählt, ist nur, dass wir unsere Erwartungen erfüllen. Wir sehen das Glas halb leer statt halb voll.
Das Nichterreichen verursacht Stress. Und zu viel Stress kann Schamgefühle hervorrufen.
Ein Teufelskreis.
Und um dem noch die Krone aufzusetzen: Die Prozesse im Hirn laufen unbewusst oder halb-bewusst.
Selbstgespräche bewusst machen
Nun, was wir als Erstes versuchen müssen, ist, das Unbewusste oder halb-bewusste bewusst zu machen.
Mit Unbewusst oder halb-bewusst meine ich zB Selbstgespräche, an die wir uns so sehr gewöhnt haben, dass wir dieser Stimme glauben, als sei es DIE Wahrheit.
- Ich habe dies und jenes falsch gemacht
- Ich bin ein Versager
- Ich hätte schneller mit dem Projekt fertig sein sollen
- Ich hätte mit meiner Tochter mehr spielen sollen
Stattdessen sollten wir die Kontrolle über unsere Selbstgespräche übernehmen.
Denken ist kein fertiges Produkt.
Denken ist ein Prozess.
Und negative Gespräche mit sich führen, basiert auf unserem Denken.
Scham entsteht also nicht plötzlich, sondern weil wir auf eine bestimmte Art und Weise über eine bestimmte Sache oder Person nachdenken.
In kurz: Wort -> Bild -> Gefühl -> Verhalten.
Nun, was grundsätzlich bei Menschen gilt, ist bei Eltern nicht anders. Besonders bei ambitionierten Eltern.
Hast du schon mal über den Zusammenhang zwischen Ambitioniert-sein und Schamgefühle-haben nachgedacht?
Vielleicht liegt die Ursache für deine Scham also hier begraben.
Ich sage nicht, dass wir nicht ambitioniert sein sollen. Es ist gut, dass wir nicht aufgeben. Und es ist gut, dass unser Leben uns nicht egal ist; Gesundheit, Kinder, Familie, Karriere usw.
Ich weiss, das ist blöd. Es wäre schön, wenn es einfacher wäre. Aber leider bleibt uns nichts anderes übrig. Wir müssen lernen, damit umzugehen.
Und genau darum geht es in diesem Newsletter: Der richtige Umgang mit den eigenen Ansprüchen, damit wir nicht daran zugrunde gehen.
Schau, vielleicht bist du kein schlechter Partner, schlechte Mutter oder schlechter Vater. Vielleicht bist du einfach zu anspruchsvoll.
Statt dich also weiter fertig dafür zu machen, sei offen und lese, warum wir dieses Schamgefühl für Wachstum nutzen können.
Welches Ereignis hat dich geweckt?
So, vielleicht fragst du dich jetzt, wie das so weit kommen konnte. Nun, das habe ich mich auch gefragt, als ich eines Tages mit viel Druck und Scham aufgewacht bin.
"So bin ich doch nicht!" habe ich zu mir gesagt.
Das war nach der Geburt meines ersten Kindes.
Wenn du meine Geschichte kennst, dann weisst du, was für ein grosser Moment das in meinem Leben war. Sowohl positiv als auch negativ.
Neben der Geburt eines Kindes gibt es noch andere Ereignisse, die Druck und Scham verursachen können:
- Neuer Job
- Krankheit
- Unfall
Was auch immer es ist, dem zugrunde liegt immer dasselbe: die Unfähigkeit, dem eigenen Anspruch gerecht zu werden. Das führt zu Scham. Und Scham heisst verletzt sein. Und verletzt sein bedeutet Unsicherheit. Unsicherheit wiederum heisst Nähe-suchen.
Und wer keine Nähe bekommt wehrt sich. Und sich-wehren kann unangenehm sein. Man wird impulsiv.
Alles zwar nur theoretisch und potenziell. Und vielleicht ist das auch ein zu weiter Bogen, den ich schlage. Aber wenn wir ehrlich sind, dann trifft dies doch auf die meisten Personen zu, oder nicht?
Ich hoffe, du verstehst, worauf ich hinaus möchte.
Das mit dem zu-weiten-Bogen ist eigentlich nicht richtig. Denn es ist nicht so, dass über Scham nicht geforscht wird.
Kristin Neff hat in ihrem Buch "Selbstmitgefühl" über Forschungsergebnisse geschrieben, die zeigen, dass Menschen, die unter Schamgefühlen leiden und sich selbst verurteilen, eher dazu neigen, anderen die Schuld für etwas zu geben.
Na ja, was soll ich sagen. Beurteile du selbst, ob daran etwas Wahres ist oder nicht.
Aber was ist eigentlich der Massstab für Scham? Woher wissen wir, dass das, was wir machen, nicht gut ist? Oder eben gut.
Gibt es hierfür ein Gesetz oder Regeln?
Genau. Nein, gibt es natürlich nicht.
WIR bestimmen, was gut oder schlecht ist. WIR legen die Kriterien fest.
Darum sehe ich Scham als etwas Positives. Es gibt uns den Weg für Wachstum vor.
Ich denke nicht, dass das je aufhören wird. Ich meine, das Reflektieren darüber, und die Anpassungen, die wir vornehmen. Aber ich hoffe, dass der Druck und das Schamgefühl nicht mehr so schwer auf unseren Schultern lasten.
Ausserdem denke ich, dass das, von dem wir denken, es sei das schlimmste, was uns je passiert ist, in Wahrheit das beste war, das und hätte passieren können.
Ich bin kein Zyniker. Ich sehe es einfach realistisch oder besser gesagt pragmatisch. Ohne die Geburt meines ersten Kindes würde ich diesen Text so nicht schreiben.
Wie geht der Spruch: Sehe Herausforderungen nicht als Last, sondern als Möglichkeit. Statt frustriert zu sein, nehme das Ereignis dankbar an. Sehe das Potenzial, daran zu wachsen.
Also, Fakt ist: Wir leiden.
Und warum nochmals? Weil der Umgang mit unseren eigenen Ansprüchen falsch ist. Daraus entstehen Druck und Scham.
Wir geben Vollgas. Statt innezuhalten und zu reflektieren.
Wir machen uns fertig, statt die richtigen Lehren daraus zu ziehen.
Nun, bevor ich über die Lösungsideen spreche, möchte ich noch auf zwei Einwände eingehen, die ich immer wieder höre und lese.
- Scham entsteht plötzlich, ich kann nichts dagegen tun.
- Mein Druck (meine Gedanken) haben keine negativen Konsequenzen.
Erstens: Nein, Scham entsteht, weil wir auf eine bestimmte Art und Weise denken. Wir können aber unser Denken steuern.
In der Psychologie kennt man das zB unter "Verschmelzung".
Wenn wir bei Problemen alle möglichen Lösungen aussperren und nur eine Möglichkeit zulassen, dann gibt es “Verschmelzung”.
Hayes Steven C., Autor von "In Abstand zur inneren Wortmaschine" schreibt: "Kognitive Verschmelzung bedeutet, unsere Gedanken zu behandeln, als wären sie das tatsächlich, worüber sie nur Aussagen machen."
Ziel also ist die "Entschmelzung".
Statt nur eine Lösung zu sehen, sei offen für neue Lösungen.
Zweitens: Scham, Druck, negative Gedanken und Gefühle spiegeln sich IMMER im Verhalten. Nicht 24/7, aber immer wieder.
Gedanken und Gefühle können nicht unterdrückt werden. Können schon, aber sie schlagen dann stärker zurück.
Die Forschung hat das gezeigt, das ist keine Erfindung von mir. Lies es nach, wenn du mir nicht glaubst.
Weise deine Scham in die Schranken: Lösung in vier Schritten
1. Dankbarkeit täglich als Höhepunkte festhalten
Ziel von Schritt eins ist es, alles Positive, das wir an einem Tag erleben, zu sammeln.
In Schritt eins nimmst du keine Analyse vor. Du reflektierst nicht wirklich. Sondern hältst erst mal nur fest.
Folgende Beispiele kannst du festhalten:
- Ich bin am Morgen beim ersten Wecker aufgestanden
- Am Nachmittag habe ich mit meiner Tochter auf dem Spielplatz gespielt
- Ich habe damit begonnen, meinen Roman zu schreiben
- Ich war schon zum fünften Mal beim Psychologen
- Ich habe Lebensmittel eingekauft
- Ich habe die Steuererklärung angefangen
- Am Abend hatte ich meine Impulse unter Kontrolle
Und wie du das festhältst, spielt absolut keine Rolle. Wenn du digital bisher nicht so organisiert bist, wie du es gerne wärst (zB Aufgaben, Projekte, Kalender usw.) dann empfehle ich dir einen Schreibblock oder ein Tagebuch.
Ziel dieser vier Schritte sind NICHT, sich professionell zu organisieren.
So, mache nichts Kompliziertes.
Ich nutze Notion, weil ich damit vertraut bin und es seit drei Jahren täglich nutze. Und ich mache täglich einen Eintrag (nicht wirklich jeden Tag, aber an den meisten Tagen).
So sieht das zB aus:
Datum: 20. Januar 2024
Höhepunkt: Ich halte schon seit drei Wochen täglich Höhepunkte fest.
Das ist alles. Mache es nicht komplizierter.
Das Festhalten, also Schritt eins, dauert wörtlich nur 30 bis 60 Sekunden.
Und wenn du Schwierigkeiten hast mit dem Aufsetzen einer Gewohnheit, lese den Newsletter, den ich vor ein paar Wochen geschrieben habe: Von der Theorie zur Praxis: Wie man AKTIVER wird und RUHE findet.
2. Dankbarkeits-Höhepunkte-Liste täglich UND wöchentlich durchlesen
In Schritt 2 liest du die Höhepunkte; täglich und wöchentlich.
Aber lese das Geschriebene nicht einfach im Blitzmodus herunter.
Sehe die Fortschritte. Erkenne sie an. Und vor allem: Fühle sie!
Wir sind emotionale Wesen. Darum müssen wir fühlen. Denken alleine genügt nicht.
Erkenne deine Fortschritte wirklich an.
Sei stolz darauf.
Am besten schaust du deine Liste jeden Abend vor dem Zubettgehen an. Auch das dauert keine zwei Minuten.
Wenn du keine zwei Minuten hast (oder drei, wenn du Schritt 1 dazurechnest), dann lasse den Frust nicht an deiner Familie oder anderen Mitmenschen aus. Sie können auch nichts dafür.
Nimm es bitte nicht persönlich, aber zwei, drei Minuten hat jeder Mensch.
Ok, das war jetzt etwas off-topic. Aber irgendein Gefühl sagt mir, dass irgendjemand das gerade lesen musste.
Vielleicht du?
So, es gibt noch eine zusätzliche Möglichkeit, wann du die Liste durchgehen kannst. Nicht nur am Ende des Tages, sondern auch am Ende der Woche.
Ich mache das jeweils am Sonntag. Nimm mir 30-90 Minuten Zeit, um die vergangene Woche zu analysieren und die kommende Woche zu planen. Unter anderem schaue ich meine Höhepunkte an.
Wenn dir das zu viel ist, dann vergiss das wöchentliche Durchlesen. Fokussiere dich voll und ganz auf das tägliche Durchlesen.
Sehe die Schritte 1 und 2 als Basis. Überspringe diese beiden Schritte nicht. Beginne erst dann mit Schritte 3 und 4.
3. Enttäuschungen festhalten
Halte alles Negative an einem Tag fest.
Das kann eine kleine Enttäuschung sein, wie zB vergessen Omega 3 Pillen zu nehmen. Oder ein grösserer Tiefpunkt, wie zB Streit am Abend mit Ehemann.
Wichtig auch hier, wie in Schritt 1, keine Bewertung vornehmen. Erst einmal nur alles festhalten.
Ein paar weitere Beispiele:
- Konnte nicht im Buch XY weiterlesen
- Stress am Morgen, weil mein Sohn nicht alleine Zähneputzen kann
- Absage eines Kunden
- Wenig Interesse/Beachtung von meiner Frau zu Thema XY
Und dann machst du das, was du in Schritt 2 bereits für die Höhepunkte gemacht hast: Du gehst die Liste durch.
Fühlst du Schmerz, gut.
Nach ein paar Tagen/Wochen suchst du nach Mustern. Wenn auf der Liste steht, dass du und dein Partner oft streitet, frage dich, wann das jeweils passiert und was das Thema ist.
Vielleicht erkennst du, dass ihr vor allem am Abend streitet, wenn die Kinder ins Bett gebracht werden müssen. Und du erkennst ein Thema, das sich wiederholt: Wer-macht-was.
Siehst du, wohin das führt?
Und dann gehst du noch weiter. Du fragst dich, warum du so aufgebracht bist, wenn du zB die Küche machen musst.
Ah! Weil du noch E-Mails schreiben oder an einem Projekt arbeiten möchtest.
Ah! Weil du deinem Kind eigentlich eine Geschichte vorlesen möchtest.
Ah! Weil du mit deiner Frau gute Gespräche führen möchtest.
Du möchtest viel, merkst du es?
Und das ist auch gut so!
ABER du kannst nicht alles gleichzeitig haben.
Das ist der wichtigste Teil in diesem Newsletter. Wenn du das verstanden hast, dann hast du zumindest die Erkenntnis, woran es liegen könnte, dass du dich schämst und warum du emotional wirst.
Natürlich muss das nicht zwingend mit der Scham zusammenhängen. Aber hey, zumindest sind wir ihr auf der Spur.
4. Verbesserungen als Ziele festhalten
Wenn du das nächste Level erreichen möchtest, dann formuliere Ziele.
Gehe die Liste der Enttäuschungen durch und wähle eines der Muster aus, die du in Schritt 3 bereits festgehalten hast.
Es gibt zwei Arten von Zielen:
- Resultat
- Gewohnheit / Routine
Ein Resultat-Ziel ist zB:
- Puzzle fertiggestellt
- Lösung für E-Mail-Workflow gefunden (keine E-Mails mehr am Abend schreiben)
Ein Gewohnheits-Routine-Ziel ist zB:
- Jeden Abend die Höhepunkte-Liste durchgehen
- 1 x in der Woche ein Gespräch mit Partner über Kinder führen
Natürlich musst du das noch genauer formulieren. Aber ich hoffe, du verstehst, worin der Hauptunterschied liegt.
So, jetzt weisst du, wie du deine Scham als Tool für Wachstum nutzen kannst.
In Schritte 1 bis 3 legst du das Fundament.
In Schritt 4 setzt du das Potenzial frei.
Stärke deine Beziehungen
Also, bevor du das Nächste mal nach der Arbeit mit deiner Familie interagierst, könntest du deine Erfolge des Tages und/oder der Woche durchgehen.
Und diese fühlen.
Ich meine, intuitiv ist es irgendwie logisch. Wenn du deine Erfolge ernst nimmst, sendest du deinem Hirn wichtige Signale. Nach dem Motto "Du hast dies und jenes geschafft. Du hast dich bemüht. JETZT kannst du entspannen, loslassen und präsent sein."
Vielleicht klappt das nicht immer. Aber was ist die Alternative?
Wenn wir schon Scham empfinden, warum nicht als Tool einsetzen?
Kamal Ravikant schreibt sinngemäss: Schmerz macht uns nicht einzigartig. Es ist menschlich. Und egal, was ich durchlebe, ich bin nicht der Einzige.
Dasselbe gilt für Scham. Wir fühlen es. Egal, was wir durchleben, wir sind nicht die Einzigen.
Wir können Scham aber als Tool einsetzen, um unsere Beziehungen zu stärken; zu Partnern und Kindern sowie auch Freunden und Familie.
Wenn du nicht weisst, was du als Nächstes tun sollst, tue Folgendes:
Schreibe JETZT auf, was du heute bisher geleistet hast. Dann nimm dir 30 - 60 Sekunden Zeit, um diese Erfolge zu feiern, fühle sie.